The Reckoning | Spektakelhorror voller verschenkter Motive

Dass der Horror das tiefgründigste Genre ist, liegt sowohl in seiner direkten Kopplung an die menschliche Psyche als auch in seiner Darstellung von Angst begründet. Denn einerseits beschreibt er, im Gegensatz zu Genren wie Fantasy oder Sci-Fi, bereits per se eine spezifische Bewusstseinsänderung und ist somit in der Lage, die Teilnahmslosigkeit von Zuschauenden zu transzendieren; andererseits nimmt er genau deshalb Bezug auf seit jeher für uns Menschen zentrale Themen wie zwischenmenschliche, soziale und existenzielle Ängste. Diesbezüglich fungiert er nur allzu oft als clevere, vielfältige Metapher und Verbildlichung – sei es eine thematisierte Vergänglichkeit, deren ohnehin unausweichliche Präsenz mithilfe des Horrors visualisiert und greifbar gemacht werden kann, oder die Bedrohlichkeit verschiedener Krankheiten, die sinnbildlich festgehalten wird. Insofern lässt sich die Grundthematik des im Folgenden besprochenen Horrorfilmes The Reckoning durchaus sehr vielversprechend an:

Als 1665 in England die große Pest wütet, stellt Grace (Charlotte Kirk) eines Abends geschockt fest, dass sich ihr Ehemann an einem Baum erhängt hat. Während das Leid in der Welt immer weiter zunimmt, ist sie fortan auf sich allein gestellt und muss sich um ihr neugeborenes Kind kümmern. Nur mit Mühe schafft sie es deshalb, den sexuellen Übergriff des hinterlistigen Moorcroft (Sean Pertwee) abzuwehren und ihn zu vertreiben. Um sich zu rächen wirft er ihr deshalb vor, eine Hexe zu sein und ihren Mann ermordet zu haben – was sie unter Folter gestehen soll.

Die Umsetzung der Pest als Horrormotiv, um die zerstörerische Kraft der Epidemie zum einen in ihrer physischen und zum anderen in ihrer zwischenmenschlichen Grausamkeit metaphorisch zu unterstreichen; ein herausragender Subtext. Im Intro und der Eröffnungssequenz weiß The Reckoning dies auch anzuwenden, wenn die Zeit vor der Epidemie romantisiert der Epoche der Krankheit entgegengestellt und dies mit Einzelschicksalen verknüpft wird. Liebe und Zweisamkeit auf der einen, Tod und Einsamkeit auf der anderen Seite, eine kontrastive Beleuchtung als Verbildlichung. Regen zur Zeit der Pest, Samen im Wind zur Zeit davor, ein Kontrast der verschiedenen körperlichen Arbeiten als Verdinglichung. Etwas plakativ, aber durchaus nicht ungeschickt.

Dass Grace in den folgenden Szenen eine Vision ihres Mannes als Pestleiche hat und später von einer solchen angezwinkert wird, führt diesen Ansatz fort. Die Inszenierung überträgt dies mittels Jumpscares sowie einem einnehmend lauten Sounddesign direkt an die Zuschauenden und macht die Angst vor der Krankheit somit sinnbildlich spürbar. Auch entlang der Protagonistin formuliert das Werk die zerstörerischen Auswirkungen der Pest, wenn sich Panik in der Bevölkerung zu Frauenhass und Spiritualität konstruiert. Würde all das nicht sofort wieder weggeworfen, hätte The Reckoning ein guter, intelligenter Film werden können.

Doch ernüchternderweise interessiert sich der Film in seinem weiteren Verlauf weder für einen tiefgründigen Einsatz seiner Horrorelemente, noch für mehr als die Oberfläche seiner Charaktere. Es ist regelrecht lachhaft, wie er, nach stupidem Spektakel haschend, jegliche filmische Vielschichtigkeit in den Wind schießt. Motive, die geistreich genutzt hätten werden können, verkommen zum Platzhalter billiger Bespaßung und verkümmern, ohne ansatzweise ausformuliert zu werden. So wird der Grusel, anstatt als Metapher zu dienen, immer mehr zur Folterorgie und gegen Ende sogar von nichtssagendem, unsäglich plumpen Dämonenhorror untergraben. Damit entmystifiziert sich das Werk vollständig selbst und gesteht ein, kein Anliegen an irgendeiner Tiefe zu haben, sodass jegliche Deutung hinsichtlich seines Settings plötzlich hinfällig wird.

Umso plakativer wirkt daher der Soundtrack, der, sobald der Film es verpasst, mit den Zuschauenden zu interagieren, nur noch überzogen laut erscheint. Insbesondere, wenn er in Actionsequenzen oder Schockhorrorszenen seine Melodigkeit ab- und sich stumpfen Geklirre preisgibt, wird der mangelnde Subtext mehr als deutlich. Entsprechend schwachsinnig ist die spektakellastige Gewalt, die neben Grausamkeit und Effekthascherei nichts bieten kann und somit jeglicher Daseinsberechtigung entbehrt. Ungeachtet von Foltereskapaden und oberflächlichen Rachemomenten scheitert The Reckoning ebenso komplett daran, eine wirksame Grausamkeit aus seinen Motiven zu ziehen, geschweige denn eine drückende Stimmung aufzubauen.

Nicht verwunderlich ist es daher, dass der Film seine Charaktere nicht nur zu hilflosen Hüllen degradiert, sondern auch kaum etwas mit ihnen anzufangen weiß. Uninspirierte Antagonisten wechseln sich mit tiefenlosen Protagonisten ab, deren fehlende Menschlichkeit mit möglichst manipulativer Musik kompensiert wird. Eindrucksvoll ist diesbezüglich die Szene, in der Grace gefoltert wird, damit sie den Mord an ihrem Mann gesteht, und sie ihre Pain stoisch erträgt. Dass ein unnötig rührseliger Chor zur Untermalung dessen herhalten muss, spricht Bände über das inszenatorische Unvermögen. Ähnlich unübersehbar fällt der visuelle Rückbezug des Finales zum Beginn des Streifens aus – Grace, die ein Schwert schwingt, nur dass sie diesmal mit dem ersten Hieb trifft, was wohl ihre sowieso kaum thematisierte Entwicklung zementieren soll. Im Sinne der Unbeholfenheit dieser Szene lasse ich einmal offen, ob man dies noch Filmsprache oder doch schon Zuschauendenverarsche nennen kann.

An eingängiger Zweiseitigkeit oder exemplarischen Einzelschicksalen versucht sich das Werk also gar nicht erst. So formuliert sich die Emanzipation der Frauenfiguren auch lediglich über Gewalt an ihnen und Gewalt von ihnen, anstatt tatsächlich patriarchalische Verhältnisse zu illustrieren und zu dekonstruieren. Ein intendierter Feminismus wird dank dieser Plakativität im Keim erstickt, auch eine Kritik an der Kirche oder historischen Verhältnissen fungiert lediglich als Platzhalter für blutigen Schockhorror. Unnötiger könnten die Texttafeln zu Beginn und Ende des Filmes, die ihn in Verbindung mit Hexenverbrennungen bringen, folglich kaum sein, denn das Interesse daran ist geheuchelt, was das Schlussbild erneut beweist: Eine Großaufnahme der Protagonistin, während der Score übertrieben anschwillt und Emotionalität suggeriert, wo es keine gibt.

Zusammengefasst ist The Reckoning ein höchst stupider Film, der seine Motive mit fortschreitender Laufzeit immer weniger nutzt und sich stattdessen plumpen Schockhorror zuwendet. Das ist umso enttäuschender, wenn man bedenkt, dass der Regisseur, Neil Marshall, mit The Descent einen herausragenden Film geschaffen hat. Einer, in dem sich der klaustrophobische Abstieg in das Höhlensystem direkt als Ausflug in die Psyche des Menschen anwenden lässt. Im Gegensatz dazu weiß The Reckoning nichts mit der im Horrorgenre, wie eingangs herausgestellt, möglichen Tiefgründigkeit anzufangen und lässt viel ungenutztes Potenzial liegen. Zumindest sammelt sich auf diese Weise Material für eine Flopliste am Ende des Jahres.

The Reckoning

0.00
2.5

Story

1.0/10

Schauspiel

5.0/10

Kamera

3.0/10

Inszenierung

1.5/10

Sound

2.0/10

Pros

  • Eine nicht ungeschickte Eröffnungsszene
  • Anfänglich clevere Nutzung von Horrorelementen

Cons

  • Interesselosigkeit an den eigenen Figuren
  • Vergabe möglicher tiefgründiger Motive
  • plakative Darstellung von Gewalt und Soundtrack
  • Beschränkung der Horrorelemente auf nichtssagenden Grusel
  • Orientierung an bloßem Spektakel

geschrieben am: 2. Mai, 2021 um 4:46 pm

Autor:

Ente